Erwerbsminderungsrenten - Zahlbeträge 2022

Sinkflug der Erwerbsminderungsrenten gestoppt

Rentenzahlbeträge 2000 - 2022

Johannes Steffen | Juni 2023

Der durchschnittliche Zahlbetrag der 2022 rund 141.000 neu zugegangenen Renten wegen voller Erwerbsminderung (EM) mit Wohnort in Deutschland betrug im Westen 1.009 Euro und im Osten 1.034 Euro. Gegenüber dem Jahr 2000 entspricht dies einem Zuwachs von 33 Prozent (West) bzw. 44 Prozent (Ost). Damit konnte der Sinkflug der ersten Dekade (2011 gegenüber 2000) von minus 15 Prozent (West) bzw. minus 12 Prozent inzwischen mehr als wettgemacht werden. Diesen Eindruck gewinnt, wer den Blick alleine auf die Entwicklung der Zahlbeträge im jeweiligen Zugangsjahr richtet.

Gleichzeitig ist jedoch auch der (jahresdurchschnittliche) aktuelle Rentenwert (AR) um 45 Prozent gestiegen – der AR(O) legte sogar um 64 Prozent zu. Erst die Umrechnung der Beträge auf eine einheitliche Wertebasis (2022) ermöglicht einen sinnvollen Vergleich: Im Zugangsjahr 2022 lagen die durchschnittlichen Zahlbeträge bei 98 (West) bzw. 93 (Ost) Prozent der auf aktuelle Werte umgerechneten Beträge des Zugangsjahres 2000. Unter der (rein theoretischen) Annahme, dass der Zugang an Renten wegen voller EM des Jahres 2000 auch im Jahr 2022 noch im Rentenbezug war, hätte deren durchschnittlicher Zahlbetrag (West) nicht 760 Euro, sondern 1.029 Euro betragen.

 

Der in der ersten Hälfte des referenzierten Zeitraums (2000 bis 2011) zu beobachtende Sinkflug der durchschnittlichen Zahlbeträge ist auf ein Bündel verschiedener Ursachen zurückführen. Die 2001 eingeführten Abschläge liefern nur eine Teilerklärung zumal gleichzeitig die Zurechnungszeit verlängert wurde. Sehr viel größere Bedeutung haben soziodemografische Strukturveränderungen im Rentenzugang; hervorzuheben sind vor allem der gestiegene Frauenanteil, stark rückläufige Beitragszeiten in Kombination mit einer im Durchschnitt gesunkenen Entgeltposition der Männer sowie insgesamt die gestiegene Bedeutung von Zeiten der (Langzeit- oder Mehrfach-) Arbeitslosigkeit. So sank die durchschnittliche Anzahl an persönlichen Entgeltpunkten (pEP) vom Zugangsjahr 2000 bis zum Zugangsjahr 2011 um rund 6,8 (West) bzw. 7,2 (Ost) pEP.

Die Reformen des Leistungsrechts der Erwerbsminderungsrenten fokussieren seit 2014 auf die Verlängerung der Zurechnungszeit. Hierdurch wurde der Abwärtstrend der Zahlbeträge gestoppt und seit 2018/19 (Verlängerung der Zurechnungszeit bis zur Regelaltersgrenze) deutlich gedreht. Die durchschnittliche Anzahl an persönlichen Entgeltpunkten (pEP) stieg vom Zugangsjahr 2011 bis zum Zugangsjahr 2022 wieder um rund 6,1 (West) bzw. 4,8 (Ost) pEP.

Am Ende könnte die Verlängerung der Zurechnungszeit doch noch zu kurz greifen. – Das Risiko der Erwerbsminderung konzentriert sich auf sozial »Schwächere«. Zeiten der Niedriglohnbeschäftigung sowie der Arbeitslosigkeit prägen die Erwerbsverläufe der Betroffenen in weit größerem Ausmaß als die der Gesamtheit aller Versicherten. Soziale Risiken und Benachteiligungen am Arbeitsmarkt kumulieren so in ihren negativen Wirkungen auf die Rente. Sollen die finanziellen Folgen für die Betroffenen abgemildert werden, müsste etwa im Rahmen des Grundrentengesetzes die Zurechnungszeit für die Ermittlung der Wartezeit einbezogen werden. Nur so erhält dieser Personenkreis eine reale Zugangschance zu den zeitgleich neu eingeführten Freibeträgen im Rahmen der Fürsorgesysteme (maximal 50 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 nach Anlage zu § 28 SGB XII) und des Wohngeldgesetzes. Zum anderen sollten Zeiten der Arbeitslosigkeit (evtl. auch bei Bezug von ALG gemäß SGB III) den Status bewerteter Anrechnungszeiten (bzw. beitragsgeminderter Zeiten) erhalten; dies führt im Rahmen der Gesamtleistungsbewertung in aller Regel zu höheren Rentenanwartschaften.

Ein strittiger Punkt bleiben die dauerhaften Abschläge auf EM-Renten von im Maximum bis zu 10,8 Prozent. Grundsätzlich sind Abschläge bei Erwerbsminderung, deren Eintritt vom Versicherten nicht beeinflusst werden kann, sozialpolitisch nicht vertretbar. Vor dem Hintergrund einer nunmehr bis zur Regelaltersgrenze reichenden Zurechnungszeit wäre ihre Abschaffung allerdings mit neuen Verwerfungen verbunden. Mit der Zurechnungszeit wird bei Erwerbsminderung eine Erwerbs- bzw. eine Erwerbseinkommens-Biografie fingiert, die künftig bis zum vollendeten 67. Lebensjahr reicht. Damit werden Rentenanwartschaften konstituiert, die vergleichbare nicht erwerbsgeminderte Personen, die vor Erreichen der Regelaltersgrenze Altersrente beziehen (müssen), nicht erwerben können.

Beispiel unter der Annahme einer Regelaltersgrenze von 67 Jahren Rentenanwartschaften
EM-Rente Altersrente nicht Erwerbsgeminderter
[A] [B] [C] [D]
1. Alter bei Eintritt in die RV (vollendetes Lebensalter) 20 20 20
2. Entgeltposition bzw. Gesamtleistungswert pro Jahr in EP 0,8000 0,8000 0,8000
3. Beginn der EM- bzw. Altersrente (vollendetes Lebensalter) 52 63 65
4. Entgeltpunkte (EP) für Beitragszeiten [(3 - 1) * 2] 25,6000 34,4000 36,000
5. EP für Zurechnungszeit [(67 Jahre - 3) * 2] 12,0000 / /
6. EP insgesamt [4 + 5] 37,6000 34,4000 36,000
7. Zugangsfaktor 0,892 0,856 0,928
8. persönliche EP [6 * 7] 33,5392 29,4464 33,4080

Bei einem Entgeltpunkte-Durchschnitt (= Gesamtleistungswert) von 0,8 EP pro Jahr beruht die EM-Rente im Beispiel auf insgesamt 37,6 EP; aufgrund der Abschläge in Höhe von 10,8 Prozent (= Zugangsfaktor von 0,892) verbleiben 33,5392 persönliche Entgeltpunkte (pEP). Vergleichbare nicht erwerbsgeminderte Versicherte, die mit 63 Jahren (65 Jahren) eine vorgezogene Altersrente beziehen (müssen), kommen lediglich auf 29,4464 pEP (33,4080 pEP). Nur unter der Annahme, dass im Fall [D] die Voraussetzungen für den Bezug einer abschlagsfreien Altersrente für besonders langjährig Versicherte mit 65 Jahren erfüllt sind, liegen die Rentenanwartschaften höher als im Fall der Erwerbsminderung (Vergleich [D 6] mit [B 8]).

Würden die Abschläge bei EM-Renten abgeschafft, lägen der EM-Rente 37,6 pEP [B 6] zugrunde. Anwartschaften in dieser Höhe können vergleichbare nicht erwerbsgeminderte Versicherte mit identischer Entgeltposition und geschlossener Erwerbsbiografie erst mit vollendetem 67. Lebensjahr erreichen.

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