Mini- und Midi-Jobs im Koalitionsvertrag
Mini- und Midi-Jobs im Koalitionsvertrag
Inhaltliche Widersprüche und Fragwürdigkeiten
Johannes Steffen | Februar 2018
Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD enthält einige versteckte Neuregelungen bezüglich der geringfügigen Beschäftigung (Mini-Jobs) sowie für den Bereich der Gleitzonenbeschäftigung (Midi-Jobs) – mit jeweils völlig konträrer Wirkung bzw. Zielrichtung hinsichtlich der Belastung der Beschäftigten sowie deren sozialer Absicherung. Ein Teil der geringfügig Beschäftigten wird eklatant schlechter gestellt während auf der anderen Seite durch eine – eher fragwürdige – Ausdehnung der Gleitzone Geringverdiener bei den Sozialabgaben weiter entlastet werden sollen.
Mit der Neuregelung der geringfügigen Beschäftigung im April 1999 stieg die sogenannte Geringfügigkeitsgrenze auf bundeseinheitlich 630 DM und Arbeitgeber wurden verpflichtet, für geringfügig Beschäftigte einen Pauschalbeitrag an die Renten- und Krankenversicherung zu zahlen. Dennoch blieben die Minijobber selbst zunächst versicherungsfrei – ihnen wurde aber die Möglichkeit eröffnet, auf die Versicherungsfreiheit in der Rente zu verzichten (»opting-in«); in diesem Fall hatten sie die Differenz zwischen Pauschalbeitrag und »vollem« Beitrag zu tragen. – Im April 2003 stieg die Geringfügigkeitsgrenze von 325 Euro auf 400 Euro und die vormalige Arbeitszeitgrenze von unter 15 Wochenstunden wurde gestrichen; zudem wird seither zwischen geringfügigen Beschäftigungen (§ 8 SGB IV) und geringfügigen Beschäftigungen in Privathaushalten (§ 8a SGB IV) unterschieden. Maßgeblich ist die Unterscheidung für die Pauschalbeiträge des Arbeitgebers; für Arbeitnehmer ist die Differenzierung bei der Rente erheblich. – 2013 erfolgte eine weitere Anhebung des Grenzbetrages auf 450 Euro. Vor allem aber sind Minijobber seither in die Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rente einbezogen – mit der Möglichkeit, sich hiervon auf Antrag befreien zu lassen (»opting-out«). Für gewerbliche Mini-Jobs zahlt der Arbeitgeber seit Juli 2006 einen Pauschalbeitrag von 15 Prozent zur Renten- und für gesetzliche Krankenversicherte 13 Prozent zur Krankenversicherung [1]; für geringfügig Beschäftigte in Privathaushalten sind es jeweils fünf Prozent. Basis für den Pauschalbeitrag ist der Bruttolohn; demgegenüber beträgt die Bemessungsgrundlage für den Rentenbeitrag ausschließlich geringfügig Beschäftigter (Arbeitnehmer-Anteil) mindestens 175 Euro – auch bei einem geringeren Bruttolohn. Im September 2017 waren insgesamt rund 18 Prozent der Minijobber rentenversicherungspflichtig [2].
Die Unions-Vorstellung vom »mitwachsenden Minijob« [3] – also die lohndynamische Geringfügigkeitsgrenze – fand keinen Eingang in den Koalitionsvertrag. Allerdings sieht die Vereinbarung vor, den Pauschalbeitrag des Arbeitgebers zur Rentenversicherung für die rund 140.000 Zeitungsboten (offenbar rückwirkend ab 01.01.2018) für die Dauer von fünf Jahren bis zum 31. Dezember 2022 von 15 auf fünf Prozent abzusenken – »zur Sicherung der bundesweiten Versorgung mit Presseerzeugnissen für alle Haushalte – in Stadt und Land gleichermaßen« [4], wie es heißt. Der Beitragsanteil zur Rente beträgt für die betroffenen Beschäftigten damit künftig 13,6 Prozent – statt bisher 3,6 Prozent. Für versicherungspflichtige Minijobber bedeutet dies bei einem Monatsbrutto von 450 Euro eine (Netto-) Lohnkürzung von 45 Euro oder gut zehn Prozent; viele werden sich künftig von der Versicherungspflicht befreien lassen – zu Lasten ihrer sozialen Absicherung. [5] Auf das verfügbare Einkommen versicherungspflichtiger Minijobber im »Hartz-IV«-Bezug hat das Vorhaben keine Auswirkungen; zwar sinkt auch ihr (anrechenbarer) Nettolohn infolge des höheren Arbeitnehmer-Beitrags zur Rente – im Gegenzug steigt aber die Aufstockungszahlung des JobCenters im gleichen Umfang.
Mini- 1 und Midi-Jobs
Höhe und Verlauf der Beitragsbelastung 2019 2
Brutto-Lohn in Euro pro Monat | ArbGeb-Beitrag in Euro 3 |
ArbN-Beitrag 4 in Euro |
ArbN-Beitrag in Prozent des Brutto-Lohns |
ArbN- Entlastung in Euro |
|||
gR | SPD-Modell 5 Midi-Jobs | gR | SPD-Modell 5 Midi-Jobs | gR | SPD-Modell 5 Midi-Jobs | ||
[1] | [2] | [3] | [4] | [5] | [6] | [7] | [8] |
100 | 28,00 | 6,30 | 6,30 | 6,30 | 6,30 | - | - |
150 | 42,00 | 6,30 | 6,30 | 4,20 | 4,20 | - | - |
200 | 56,00 | 7,20 | 7,20 | 3,60 | 3,60 | - | - |
250 | 70,00 | 9,00 | 9,00 | 3,60 | 3,60 | - | - |
300 | 84,00 | 10,80 | 10,80 | 3,60 | 3,60 | - | - |
350 | 98,00 | 12,60 | 12,60 | 3,60 | 3,60 | - | - |
400 | 112,00 | 14,40 | 14,40 | 3,60 | 3,60 | - | - |
450 | 126,00 | 16,20 | 16,20 | 3,60 | 3,60 | - | - |
451 | 88,96 | 46,55 | 46,49 | 10,32 | 10,31 | -42,41 | -42,47 |
500 | 98,63 | 61,42 | 58,60 | 12,28 | 11,72 | -37,21 | -40,03 |
550 | 108,49 | 76,60 | 70,97 | 13,93 | 12,90 | -31,89 | -37,52 |
600 | 118,35 | 91,78 | 83,33 | 15,30 | 13,89 | -26,57 | -35,02 |
650 | 128,21 | 106,96 | 95,70 | 16,46 | 14,72 | -21,25 | -32,51 |
700 | 138,08 | 122,12 | 108,06 | 17,45 | 15,44 | -15,96 | -30,02 |
750 | 147,94 | 137,31 | 120,42 | 18,31 | 16,06 | -10,63 | -27,52 |
800 | 157,80 | 152,49 | 132,79 | 19,06 | 16,60 | -5,31 | -25,01 |
850 | 167,66 | 167,67 | 145,15 | 19,73 | 17,08 | - | -22,51 |
900 | 177,53 | 177,53 | 157,51 | 19,73 | 17,50 | - | -20,02 |
950 | 187,39 | 187,39 | 169,88 | 19,73 | 17,88 | - | -17,51 |
1.000 | 197,25 | 197,25 | 182,24 | 19,73 | 18,22 | - | -15,01 |
1.050 | 207,11 | 207,11 | 194,61 | 19,73 | 18,53 | - | -12,50 |
1.100 | 216,98 | 216,98 | 206,97 | 19,73 | 18,82 | - | -10,01 |
1.150 | 226,84 | 226,84 | 219,33 | 19,73 | 19,07 | - | -7,51 |
1.200 | 236,70 | 236,70 | 231,70 | 19,73 | 19,31 | - | -5,00 |
1.250 | 246,56 | 246,56 | 244,06 | 19,73 | 19,52 | - | -2,50 |
1.300 | 256,43 | 256,43 | 256,43 | 19,73 | 19,73 | - | - |
gR = geltendes Recht 1 Gewerblicher Mini-Job (ohne Zeitungsboten), 2 Um die Verteilungswirkungen alleine einer Ausweitung der Gleitzone isolieren zu können, wird auf die (voraussichtlichen) Beitragssätze des Jahres 2019 abgestellt: 18,6% aRV, 14,6% GKV, 1,0% paritätisch finanzierter GKV-Zusatzbeitragssatz, 2,7% BA, 2,55% sPV, 3 Pauschalbeitrag von 15% (RV) bzw. 13% (KV), 4 Mindestbemessungsgrundlage für RV-Beiträge im Mini-Job: 175 Euro, 5 Ausweitung der Gleitzone von 450,01 Euro bis 850 Euro auf 450,01 Euro bis 1.300 Euro Quelle: Eigene Berechnungen |
Die Entlastung der Zeitungsverleger führt zu Einnahmeausfällen bei den Trägern der Rentenversicherung – Schätzungen sprechen von bis zu 50 Millionen Euro jährlich. Hier drängt sich der Verdacht auf, dass die Verleger eine Kompensation für den seit Jahresbeginn auch von ihnen zu zahlenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,84 Euro erhalten sollen [6]. Das Vorhaben steht in offenem Widerspruch zu dem an anderer Stelle des Vertrages gegebenen Versprechen: »Geringverdienerinnen und Geringverdiener werden wir bei Sozialbeiträgen entlasten« [7].
Diese apodiktisch anmutende Ankündigung bezieht sich allerdings alleine auf die Midi-Jobs oder Gleitzonenbeschäftigung. Seit April 2003 schließt für Entgelte innerhalb eines Korridors von 400 Euro oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze eine sogenannte Gleitzone an. Um nach Überschreiten der Geringfügigkeitsgrenze den Anstieg der Beitragsbelastung abzufedern, steigt der Anteil der Arbeitnehmer zur Sozialversicherung – in Abhängigkeit vom regelmäßig erzielten monatlichen Arbeitsentgelt – von 10,3 Prozent in konkavem Verlauf auf den vollen Satz zum Ende der Gleitzone an; bei mehreren Beschäftigungsverhältnissen ist das insgesamt erzielte Arbeitsentgelt maßgebend. Der Beitrag des Arbeitgebers bleibt von der Sonderregelung unberührt. Für die Berechnung der Entgeltersatzleistungen der Arbeitslosen- und der Krankenversicherung hat die Sonderregelung keine negativen Auswirkungen. Demgegenüber fallen die Anwartschaften im Rahmen der Rentenversicherung infolge des Beitragsnachlasses geringer aus. Daher können Beschäftigte auf die Begünstigung verzichten und den vollen Arbeitnehmeranteil zur Rente zahlen; dies geschieht allerdings nur in wenigen Fällen.
Im Koalitionsvertrag ist eine – nicht näher bezifferte – Ausweitung des Gleitzonen-Korridors vorgesehen; das Regierungsprogramm der SPD stellt eine Gleitzone bis 1.300 Euro in Aussicht [8]. »Dabei wird sichergestellt,« – so der Koalitionsvertrag – »dass die geringeren Rentenversicherungsbeiträge nicht zu geringeren Rentenleistungen im Alter führen.« [9] Eine solche Kompensation könnte schon aus Gründen der Praktikabilität nicht auf die Neuregelung, also den Zusatzeffekt, begrenzt werden, sondern müsste generalisierend alle unter die Gleitzonenregelung fallende Beschäftigungsverhältnisse gleichermaßen erfassen. Sollen die Nachteile bei der Rente ausgeglichen werden, so ist die (geminderte) Beitragszahlung von dritter Seite entsprechend zu kompensieren – oder bei der Rentenberechnung wird künftig eine volle Beitragszahlung »fingiert«. Wer die Kosten tragen soll, lässt der Vertragstext völlig offen; insbesondere bei einer »fingierten« Beitragszahlung liegt die Vermutung nahe, dass am Ende wieder alleine die Rentenversicherung zur Kasse gebeten wird. – Bei den übrigen Trägern der Sozialversicherung und der Arbeitsförderung entstehen durch eine Erweiterung der Gleitzone ebenfalls zusätzliche Mindereinnahmen, die nicht ausgeglichen werden.
Sollen Geringverdiener bei den Abgaben entlastet werden, so richtet sich der Blick vorrangig auf die Sozialbeiträge. Denn Entlastungen über die Lohnsteuer laufen weitgehend ins Leere; so wird etwa bei Steuerklasse I aktuell erst ab einem Monatsbrutto von 1.030 Euro überhaupt Lohnsteuer einbehalten.
Welchen Sinn aber macht eine Verlängerung der Gleitzone über die geltende Regelung hinaus? – Die Entlastung ist um so höher, je geringer das Entgelt ausfällt; eine Ausdehnung der Zone um 450 Euro auf 1.300 Euro würde in der Spitze eine zusätzliche Entlastung von gut 22 Euro bei einem Bruttolohn von 850 Euro bewirken (in obiger Tabelle Spalte 8 minus Spalte 7). Ein geringer Verdienst alleine ist aber kein hinreichendes Indiz für ein geringes (Haushalts-) Einkommen. Fällt im Haushaltszusammenhang weiteres – womöglich nennenswertes – Einkommen an, so kann es nicht Aufgabe der Solidargemeinschaft sein, sozialen Schutz »billiger« anzubieten und die damit verbundenen Kosten zu einem großen Teil gleich mit zu übernehmen.
Verfügt der Haushalt dagegen neben dem Midi-Lohn über kein weiteres nennenswertes Einkommen, so dürfte in aller Regel Leistungsberechtigung nach SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) vorliegen. Dann aber kann die überschaubare Entlastung auf der Beitragsseite nur in Ausnahmefällen zur Überwindung der »Hartz-IV«-Abhängigkeit führen. Im Regelfall mindert das infolge des Beitragsnachlasses erhöhte Nettoentgelt lediglich die aufstockende »Hartz-IV«-Leistung – das verfügbare Einkommen insgesamt erhöht sich für Gleitzonen-Beschäftigte dadurch nicht. Ergebnis wäre eine von der Gemeinschaft der Beitragszahler finanzierte Entastung der Kommunen – und teilweise des Bundes – von Fürsorgekosten.
»Hartz-IV«-Schwelle des Bruttoentgelts im Bundesdurchschnitt
Single-Bedarfsgemeinschaft – September 2017
Monatlicher Bedarf in Euro | 736,00 |
Monatliches Bruttoentgelt (»Hartz-IV«-Schwelle) in Euro | 1.376,98 |
Monatliches Nettoentgelt in Euro | 1.036,00 |
Absetzbeträge nach § 11b SGB II (pauschal) in Euro | 300,00 |
Anrechenbares Entgelt in Euro | 736,00 |
Aufstockende Grundsicherung in Euro | 0,00 |
Anmerkung: Aufgrund des höheren Grundfreibetrages, eines niedrigeren Beitragssatzes zur aRV sowie des geringeren durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes zur GKV wird das bei unveränderter Bedarfshöhe erforderliche Monats-Netto von 1.036 Euro 2018 bereits bei einem Monats-Brutto von 1.368,75 Euro erreicht. Quelle: Statistik der BA sowie eigene Berechnungen |
Verbesserungen im Rahmen des Steuer-Transfer-Systems für Haushaltseinkommen in der Nähe der »Hartz-IV«-Schwelle erfordern unter anderem einen erleichterten Zugang von Erwerbstätigen zur Wohngeldberechtigung wie auch eine Erhöhung des Wohngeldes selbst – und für Haushalte mit Kindern eine deutliche Anhebung des Kinderzuschlags. [10] Eine Verlängerung der Gleitzone erscheint vor dem Hintergrund der erwähnten Zusammenhänge sozialpolitisch weitgehend wirkungslos sowie fiskalisch unsinnig – und damit entbehrlich.
[1] Hinzu kommen in der Regel 2% Pauschalsteuer sowie aktuell Umlagen für Krankheit (0,9%), Schwangerschaft/Mutterschaft (0,24%) und Insolvenzgeld (0,06%).
[2] Vgl. Minijobzentrale, Aktuelle Entwicklungen im Bereich der Minijobs, 3. Quartalsbericht 2017
[3] CDU/CSU, Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben, Regierungsprogramm 2017 – 2021, S. 12
[4] Ein neuer Aufbruch für Europa - Eine neue Dynamik für Deutschland - Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD v. 07.02.2018, S. 94
[5] Auch für von der Versicherungspflicht befreite Minijobber hat die Senkung des Pauschalbeitragssatzes negative Auswirkungen bei der Rente.
[6] Vgl. hierzu den Beitrag von Stefan Sell, Die Zeitungsverleger, die Große Koalition und der erfolgreiche Lobbyismus. Erneut eine fragwürdige Sonderregelung für die Verleger bei den Zeitungszustellern
[7] Koalitionsvertrag, a.a.O., S. 54.
[8] SPD, Zeit für mehr Gerechtigkeit. Unser Regierungsprogramm für Deutschland, S. 51
[9] Koalitionsvertrag, a.a.O.
[10] Diesbezügliche Hinweise finden sich im Koalitionsvertrag S. 19 und S. 112.