Die gefühlte Verletzung des Lohnabstands boomt

Die gefühlte Verletzung des Lohnabstands boomt

20.08.2025 | Mitte August legte das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) eine Auswertung zum Lohnabstand zwischen Bürgergeld und Vollzeitbeschäftigung zum Mindestlohn vor (Datenstand März 2025) . Das Ergebnis zeigt für alle 400 Kreise und kreisfreien Städte, »dass unabhängig von der Haushaltskonstellation und der jeweiligen Region der Lohnabstand zwischen Bürgergeld und einer Vollzeitbeschäftigung zum Mindestlohn stets vorhanden ist« – und zwar in Höhe von mehreren hundert Euro. Selbst im Landkreis München, laut Bundesagentur für Arbeit (BA) Spitzenreiter beim Durchschnitt der laufenden anerkannte Kosten der Unterkunft (KdU) nach SGB II, beträgt der Abstand für eine Alleinstehenden-Bedarfsgemeinschaft noch 379 Euro monatlich.

Die Ergebnisse selbst werden im medialen Echoraum auch meist nicht mehr angezweifelt; schließlich lassen sich die Beträge ohne größere Anstrengungen mit den gängigen online-Rechnern [bspw.  und und ] und unter Rückgriff auf die BA-Daten zumindest stichprobenartig überprüfen. – Für Kritiker des Bürgergeldes müssen also Relativierungen her, um dennoch ein Haar in der Suppe zu finden.

So beispielsweise IW-Arbeitsmarktexperte Holger Schäfer; die BILD zitiert ihn in einer unmittelbaren Reaktion mit den Worten: »Dass Vollzeit-Arbeitnehmer mehr verfügbares Einkommen haben als Menschen, die ausschließlich vom Bürgergeld leben, beantwortet nicht die Frage, ob sich Arbeit lohnt.« Dafür müsse man das zusätzliche Einkommen in Relation zur aufgewendeten Arbeitszeit stellen. Schäfer rechnet vor: »Nach Aussage des WSI liegt der Lohnabstand in München-Land bei 379 Euro. Dafür sind 165 Stunden zu arbeiten, sodass sich je Stunde Arbeit ein Einkommenszuwachs von 2,29 Euro ergibt.« . Dass der Single-Haushalt am Ende sein disponibles Einkommen – und das ist in diesem Fall alleine der Regelsatz in Höhe von 563 Euro monatlich, denn über die erstatteten Kosten für Unterkunft und Heizung kann er nicht frei verfügen – um 67 Prozent erhöht, wird dabei gezielt aus dem Blickfeld geräumt. Zudem bildet dieses Plus von 67 Prozent die unterste Etage in den 400 Kreise und kreisfreien Städten; nimmt man die bundesdurchschnittlichen Werte, so erhöht der Single-Haushalt sein disponibles Einkommen durch Vollzeitarbeit zum Mindestlohn gegenüber der Vergleichsvariante »nichterwerbstätiger Bürgergeldbezug« um knapp 100 Prozent.

Argumentativ besonders kreativ in Sachen Relativierung wähnt sich Fatina Keilani, Redakteurin im Ressort Meinungsfreiheit der WELT. »Der behauptete 'Lohnabstand' kommt nicht allein vom Lohn, sondern von zusätzlichen Sozialleistungen wie Wohngeld oder Kinderzuschlag. Mit anderen Worten: Es ist nicht die Arbeit selbst, die den Abstand schafft, sondern staatliche Zuschüsse. Das ist so ähnlich, als würde man einen Marathon gewinnen, weil man mit dem Taxi zum Ziel gefahren ist – offiziell im Ziel, aber nicht aus eigener Kraft.« . Und schlussfolgert: »Arbeit muss genug Geld bringen, ohne dass Arbeitnehmer noch einen erniedrigenden Antragswust bei Behörden abarbeiten müssen.« – Soll das als Plädoyer für einen bedarfsdeckenden Mindestlohn verstanden werden, der zudem auch noch den heutigen Lohnabstand inkludiert? Dann müsste der gesetzliche Mindestlohn (im Kreis München) für kinderlose Single-Haushalte im Mittel auf 14,17 Euro angehoben werden –  bei Alleinerziehenden mit einem fünfjährigen Kind wären es auf Basis der WSI-Daten bereits 21,07 Euro und beim Paar-Haushalt mit zwei Kindern im Alter von fünf und 14 Jahren müsste der Mindestlohn 27,05 Euro betragen. Hierbei ist das Kindergeld in den beiden Fällen bereits berücksichtigt; ansonsten müsste der gesetzliche Mindestlohn noch deutlich höher ausfallen.

Bevor sich jede und jeder ein eigenes »Lohnabstandsgebot« bastelt lohnt ein Rückblick auf dessen gesetzlichen Wortlaut in seiner letztgültigen Fassung* – also bevor es infolge des BVerfG-Urteils  vom 9. Februar 2010 ersatzlos gestrichen wurde**: »Die Regelsatzbemessung gewährleistet, dass bei Haushaltsgemeinschaften von Ehepaaren mit drei Kindern die Regelsätze zusammen mit Durchschnittsbeträgen der Leistungen nach den §§ 29 und 31 [gemeint waren Kosten für Unterkunft und Heizung sowie einmalige Bedarfe] und unter Berücksichtigung eines durchschnittlich abzusetzenden Betrages nach § 82 Abs. 3 [Absetz-/Freibetrag für Erwerbseinkommen] unter den erzielten monatlichen durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelten unterer Lohn- und Gehaltsgruppen einschließlich anteiliger einmaliger Zahlungen zuzüglich Kindergeld und Wohngeld in einer entsprechenden Haushaltsgemeinschaft mit einer alleinverdienenden vollzeitbeschäftigten Person bleiben.«

Beim Vergleich der verfügbaren Haushaltseinkommen waren demnach auf Seiten des Erwerbstätigen zwingend Kindergeld und Wohngeld zu berücksichtigen; Unterhaltvorschussleistungen für Kinder von Alleinerziehenden waren bei der gesetzlich vorgegebenen Haushalts-Konstellation obsolet und der 2005 eingeführte Kinderzuschlag war bei Verabschiedung des Gesetzes noch unbekannt. – All das vermag aber offensichtlich den Boom gefühlter Verletzungen des Lohnabstands nicht zu stoppen.

* § 28 Abs. 4 SGB XII a.F. – Artikel 1 des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch v. 27.12.2003, BGBl I S. 3022
** Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch v. 24.03.2011, BGBl. I S. 453