Beschluss der 77. ASMK

77. Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) am 25./26. Oktober 2000 im Kieler Schloss

TOP 7.1
(A) Konzertierte Aktion zur Überwindung von Sozialhilfebedürftigkeit

- Antrag der Länder Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen -

Beschluss

Die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder würdigen einvernehmlich die von den Sozialhilfeträgern und den Dienststellen der Bundesanstalt für Arbeit entwickelten vielfältigen und innovativen Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung langzeitarbeitsloser Menschen. Sie halten es aber darüber hinaus für notwendig, dass Bund, Länder und Kommunen ihre Aktivitäten und Angebote zur Überwindung von Sozialhilfebedürftigkeit verstärken, gemeinsam handeln und damit ihren Beitrag zur Weiterentwicklung der Sozialhilfe zu einer zeitgemäßen sozialen Dienstleistung auch im Hinblick auf andere Sozialleistungssysteme erbringen. Im Vordergrund muss verstärkt das Bemühen stehen, Armutssituationen vorzubeugen und eingetretene Sozialhilfebedürftigkeit zu überwinden.

Sozialhilfe als soziale Dienstleistung darf die effiziente Abwicklung von Zahlungsvorgängen nicht als Kerngeschehen betrachten, sondern muss vorrangig Hilfeempfänger vor allem befähigen, ein Leben ohne Sozialhilfe zu führen. Das setzt voraus, dass diesem Hilfeanspruch rechtlich und tatsächlich die Mitwirkungsverpflichtung der Hilfeempfänger gleichgewichtig gegenüber steht. Sozialhilfe sollte in diesem Sinne so weit wie möglich zu einer Leistungsbeziehung auf Gegenseitigkeit ausgestaltet werden.

Durch eine weitgehende Pauschalierung der Hilfe zum Lebensunterhalt sollen eigenständiges wirtschaftliches Haushalten gestärkt, Verwaltungskapazitäten bei den Sozialhilfeträgern freigesetzt und dadurch andere Prioritäten ermöglicht werden. Eine zentrale Bedeutung im Hilfeprozess muss der persönlichen Hilfe zukommen. In Hilfeplänen sind mit den Hilfeempfängern realistische Schritte zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit zu vereinbaren und umzusetzen.

Innovationsbedarf besteht auch bei der Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Arbeits- und Sozialhilfeverwaltung, die sich nicht in der Abgrenzung von Zuständigkeiten und Verfahrensregelungen erschöpfen darf. Sie muss vielmehr auf der Basis einer Zusammenführung der jeweiligen Kompetenzen und Stärken eine gemeinsame und einheitliche Hilfe zur Überwindung von Langzeitarbeitslosigkeit ermöglichen. Die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder appellieren an den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, gemeinsam mit den Ländern die notwendigen grundlegenden Reformen zur Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe in Angriff zu nehmen (siehe Protokollnotiz, S. 4).
Aus diesem Grund unterstützen die Länder die jetzt von der Bundesregierung vorgesehenen Modellversuche, um vor einer gesetzlichen Neuregelung die organisatorischen, inhaltlichen und personellen Erfolgsbedingungen für ein verbessertes einheitliches System staatlicher Armutsvermeidung und -bekämpfung zu erproben.

Über eine sinnvolle Verbindung von Arbeitsanreizen und Sanktionen soll die Bereitschaft, eigene Anstrengungen zur beruflichen Eingliederung einzusetzen bestärkt werden. In diesem Zusammenhang ist auch auszuloten, in welchem Umfang das Subsidiaritätsprinzip der Sozialhilfe modifiziert werden kann, um Arbeitsanreize zu erhöhen. Die unterschiedlichen Formen von Subventionierung im Rahmen des § 18 Abs. 5 BSHG müssen insbesondere im Bereich einfacher Tätigkeiten verstärkt erprobt werden.

Ein solches Selbstverständnis der Sozialhilfe lässt sich nur unter bestimmten Voraussetzungen realisieren: Organisation, Arbeitsweise, Personalführung und -qualifizierung, Steuerungs- und Evaluationsverfahren müssen eine ziel- und erfolgsgerechten Dienstleistung ermöglichen und unterstützen. Sich auf Zahlungsvorgänge zu beschränken, heißt Armut zu verwalten und zu verfestigen.

Deshalb sind die Kommunen bei der Organisation eines systematischen Erfahrungsaustausches, der Auswertung innovativer Praxisansätze, der Entwicklung von Evaluationsinstrumenten, der Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dem Einsatz von EDV und der Realisierung eines systematischen und interkommunalen Vergleichs der Träger der Sozialhilfe zu unterstützen.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Gesetzgebungsvorhaben der Bundesregierung in den vorrangigen sozialen Sicherungssystemen, die unmittelbare Auswirkungen auf die Sozialhilfe haben, ist auch die Rolle der Sozialhilfe in einem zukünftigen System der sozialen Sicherung zu definieren.

Begründung:

Die aktuelle Situation im Bereich der Hilfe zum Lebensunterhalt ist im Wesentlichen dadurch geprägt, dass

  • seit Jahren die Vermeidung und Überwindung von Sozialhilfebedürftigkeit zu einem Schwerpunkt der Aktivitäten der Träger der Sozialhilfe geworden ist und Gesetzgeber und Praxis hierzu eine Reihe von Instrumenten entwickelt haben, aber das einzelne Sozialamt zu sehr auf sich allein gestellt ist und ein Defizit bei der planmäßigen Entwicklung adäquater Organisationsstrukturen und Steuerungsinstrumente besteht,

  • zwar die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik in der originären Zuständigkeit des Bundes und der Länder liegt, aber die sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen Folgen der Arbeitslosigkeit sich unmittelbar auf der örtlichen Ebene auswirken und daher die Kommunen aufgrund ihrer direkten Betroffenheit neue Aufgaben im Rahmen der örtlichen Beschäftigungsförderung übernehmen mussten,

  • die Inanspruchnahme von Hilfe zum Lebensunterhalt als Folge von Arbeitslosigkeit die Träger der Sozialhilfe nach wie vor extrem belastet, auch wenn das drastische Ansteigen der Empfängerzahlen und der Kosten der Hilfe zum Lebensunterhalt etwas gebremst werden konnte und die Tendenz inzwischen rückläufig ist,

  • neue Anforderungen an die Kommunen in der Kooperation mit Dritten (z.B. Wirtschaft, Arbeitsverwaltung, EU-Institutionen, Kirchen, Wohlfahrtsverbände) gestellt werden, die aber nicht nur lokal bewältigt werden können,

  • die Sozialhilfe in Deutschland hinsichtlich der Existenzsicherung im internationalen Vergleich gut bestehen kann, aber noch Handlungsbedarfs im Hinblick auf aktivierende Angebote zur effektiveren Überwindung von Sozialhilfebedürftigkeit besteht.

Der Kreis der Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Steigende Arbeitslosenzahlen, Zuwanderung und geänderte Familienstrukturen haben dazu geführt, dass für diesen Personenkreis sich die Hilfe zum Lebensunterhalt teilweise zu Existenzgrundlage bzw. einer ergänzenden Sicherung entwickelt hat, was zeitweilig jährlich zu zweistelligen Zuwachsraten bei den Hilfeempfängern führte.

Vor dem Hintergrund der hohen Zahl der Sozialhilfeempfänger und der zunehmenden Komplexität der Problemlagen der einzelnen Hilfebedürftigen hat sich in der Diskussion zur Weiterentwicklung der Sozialhilfe in den letzten Jahren ein Wandel vollzogen. Während früher die ausreichende Bemessung der Hilfe im Hinblick auf die Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums und die effiziente Abwicklung der monetären Leistungen im Mittelpunkt standen, ist in neuerer Zeit der Charakter der Sozialhilfe als soziale Dienstleistung mit dem Ziel, hilfebedürftigen Menschen zu einer von Sozialhilfe unabhängigen, selbständigen Lebensführung zu verhelfen, in den Vordergrund der Diskussion gerückt.

Die Eingliederung in Arbeit muss in Zukunft überall den Stellenwert erhalten, der ihr in dem gemeinsamen Bemühen zur dauerhaften Überwindung von Sozialhilfebedürftigkeit zukommt. Bund und Ländern fällt hier die Aufgabe zu, die gesetzlichen Rahmenbedingungen für erfolgreiche berufliche Eingliederungsmaßnahmen zu optimieren.

16 : 0 (Abstimmungsergebnis)

Protokollnotiz: Bremen, Hamburg, Berlin

Dabei gehen die Länder Bremen, Hamburg und Berlin davon aus, dass für die Gesamtheit der kommunalen Kassen keine zusätzlichen Leistungen/Kosten entstehen.