Grundrente im Koalitionsvertrag

Ein Interpretationsversuch

Die »Grundrente« im Koalitionsvertrag

Johannes Steffen | Februar 2018

Im Dezember 2016 bezogen insgesamt 525.595 Personen Leistungen der Grundsicherung im Alter. Das waren 3,1 Prozent der Wohnbevölkerung ab Regelaltersgrenze (65 Jahre und fünf Monate). Gut drei Viertel unter ihnen bezogen eine Altersrente – dies waren 404.836 Personen oder 2,6 Prozent der inländischen Altersrenten ab Regelaltersgrenze. Vor diesem Hintergrund heißt es im Koalitionsvertrag: »Die Lebensleistung von Menschen, die jahrzehntelang gearbeitet, Kinder erzogen und Angehörige gepflegt haben, soll honoriert und ihnen ein regelmäßiges Alterseinkommen zehn Prozent oberhalb des Grundsicherungsbedarfs zugesichert werden. Die Grundrente gilt für bestehende und zukünftige Grundsicherungsbezieher, die 35 Jahre an Beitragszeiten oder Zeiten der Kindererziehung bzw. Pflegezeiten aufweisen. Voraussetzung für den Bezug der »Grundrente« ist eine Bedürftigkeitsprüfung entsprechend der Grundsicherung.« [1] Die Abwicklung der »Grundrente« soll über die Rentenversicherungsträger erfolgen. – Welche Optionen lassen sich aus dem Wortlaut der Vereinbarung für die inhaltliche Umsetzung des Vorhabens ableiten?

Das Wartezeiterfordernis von 35 Jahren setzt zweifellos eine hohe Hürde für den Zugang zur »Grundrente«. Angesichts des zu begünstigenden Personenkreises langjährig »Beitragszahlender« kann die Kritik aber nicht in erster Linie auf das erforderliche Quantum an Jahren zielen – auch bei der häufig in Bezug genommenen Rente nach Mindestentgeltpunkten ist eine Wartezeit von 35 Jahren mit rentenrechtlichen Zeiten erfoderlich. Kritikwürdig ist die Auswahl der Zeiten, die für den Anspruch auf »Grundrente« in Frage kommen. Offen ist, ob und welche Phasen der Arbeitslosigkeit zur Wartezeit zählen. In den Rentenbiografien wurden und werden diese Zeiten sehr unterschiedlich berücksichtigt bzw. bewertet – als bewertete »Ausfallzeit«, als pauschale Beitragszeit, als Pflichtbeitragszeit (streckenweise gleichzeitig als bewertete Anrechnungszeit) und schließlich als unbewertete Anrechnungszeit [2]. Die Auseinandersetzungen um die Zeiten der Arbeitslosigkeit im Zusammenhang mit der »Rente mit 63« illustrieren das mögliche Interpretationsspektrum. Und da auch eine Zurechnungszeit für die Wartezeiterfüllung nicht aufgeführt wird sind Erwerbsminderungsrentner, deren Rente mit Erreichen der Regelaltersgrenze in eine Altersrente umgewandelt wird, in aller Regel von der »Grundrente« ausgeschlossen.

Altersrenten und Grundsicherung

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Hinsichtlich der Ausgestaltung der »Grundrente« scheint eine »traditionelle« Freibetragslösung, wie sie noch am 01. Februar von Karl-Josef Laumann (CDU) als Arbeitsgruppenergebnis präsentiert wurde [3], vom Tisch. Dort war die Rede von einem Freibetrag in Höhe von zehn Prozent der Rente. Bei einem Freibetrag im Sinne der Privilegierung von Einkommen bei der Anrechnung auf den Grundsicherungsbedarf läge das verfügbare Einkommen hilfebedürftiger Älterer zwar um beispielsweise zehn Prozent der Rente oberhalb ihres individuellen Bedarfs – in den allermeisten Fällen wird dadurch aber eben nicht auch der Bedarf um zehn Prozent übertroffen: So entsprechen 60 Euro zwar zehn Prozent einer Rente von 600 Euro – es sind aber nur 7,5 Prozent eines mit 800 Euro angesetzten Bedarfs.

Eine »traditionelle« Freibetragsregelung gilt seit Jahresbeginn beispielsweise für Leistungen aus freiwilliger Altersvorsorge wie etwa einer privaten »Riester-Rente« oder für Renten im Rahmen einer betrieblichen Altersversorgung. Hier bleibt ein Betrag von bis zu 100 Euro monatlich (Sockelbetrag) zuzüglich 30 Prozent der eventuell darüber hinausgehenden Leistungen von der Anrechnung auf den Fürsorgebedarf freigestellt – nach oben begrenzt auf 50 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 (2018: 208 Euro pro Monat). Die Erweiterung dieser Regelung auf Renten der gesetzlichen Rentenversicherung – im vorliegenden Zusammenhang mit entsprechend langer Wartezeit – war aber bereits im Vorfeld ausdrücklich nicht gewollt.

Die im Koalitionsvertrag formulierte Zielsetzung ließe sich mit einer auf Einkommensprivilegierung abzielenden Freibetragslösung auch nicht realisieren. Zwar dürfte der mit der »Grundrente« adressierte Personenkreis aufgrund des Wartezeiterfordernisses von 35 Jahren häufig über regelmäßige Alterseinkommen in der Nähe der Bedarfsschwelle verfügen, läge aber bei Privilegierung von zehn Prozent seiner regelmäßigen Alterseinkommen immer noch unterhalb der vertraglich ausgehandelten Zielmarke; punktgenau lässt sich die Vorgabe der Koalitionäre damit also nicht umsetzen.

Freibeträge sind zudem vergleichsweise »teuer«, da sie den Kreis der Berechtigten erweitern; Personen mit einem Einkommen knapp oberhalb des Fürsorgebedarfs rutschen durch die Gewährung eines (weiteren) Freibetrages rechnerisch in die Bedürftigkeit. Und: Der zusätzlich erforderliche finanzielle Aufwand einer Freibetragslösung ginge voll zu Lasten des Bundes, der die Kosten der Grundsicherung im Alter alleine trägt.

Wohnbevölkerung, Altersrenten und Grundsicherungsbezug in Deutschland

Jahr1 Bevöl-
kerung2
Altersrenten2
(Inland)
Empfänger von Grundsicherung im Alter
insgesamt davon mit Altersrente
absolut Anteil in v.H.
2003 14.859.995 13.207.454 257.734 158.269 61,4
2004 15.367.451 13.707.129 293.137 180,773 61,7
2005 15.870.074 14.209.596 342.855 218.105 63,6
2006 16.299.289 14.615.855 364.535 237.989 65,3
2007 16.518.744 14.844.201 392.368 260.372 66,4
2008 16.729.013 15.040.947 409.958 270.909 66,1
2009 16.901.742 15.222.539 399.837 271.749 68,0
2010 16.844.293 15.194.578 412.081 283.327 68,8
2011 16.603.432 15.228.471 436.210 308.421 70,7
2012 16.644.774 15.256.721 464.066 338.371 72,9
2013 16.704.248 15.351.530 497.433 371.335 74,7
2014 16.846.756 15.473.951 512.198 388.093 75,8
2015 16.968.997 15.612.187 536.121 414.698 77,4
2016 17.098.823 15.741.615 525.595 404.836 77,0
1 Dezember, 2 ab Regelaltersgrenze
Quelle: DESTATIS, DRV Bund sowie eigene Berechnungen

Der Vertragstext sieht eine »Grundrente« (nur) für »bestehende und zukünftige Grundsicherungsbezieher« vor. Der Anspruch auf »Grundrente« setzt also explizit Fürsorgeabhängigkeit voraus und führt damit formal nicht zu deren Überwindung. Dies legt die Überlegung nahe, dass die »Grundrente« in Gestalt einer Ergänzungsleistung [4] umgesetzt werden könnte, die ihrerseits bei der Grundsicherung von der Einkommensanrechnung freizustellen wäre. Ein möglicher Verfahrensablauf: Der Träger der Grundsicherung stellt im Einzelfall den Bruttobedarf fest und teilt, sofern eine Altersrente als Einkommen anzurechnen ist, die festgelegte Bedarfshöhe dem Träger der Rentenversicherung mit; dieser prüft das Wartezeiterfordernis. Bei erfüllter Wartezeit überweist er zehn Prozent des Bruttobedarfs als »Grundrente« an den Berechtigten.

Im Ergebnis erhöht eine solche Ergänzungsleistung das verfügbare Einkommen um zehn Prozent des Grundsicherungsbedarfs, sie erhöht aber nicht den Fürsogebedarf selbst und ist damit »statistikneutral«: Der Empfängerkreis von Grundsicherung im Alter wird alleine durch die neue Leistung nicht größer. Hier könnte die »Grundrente« der Gestaltungslogik des Bildungs- und Teilhabepakets (SGB II etc.) folgen, das auch leistungs-, nicht aber bedarfserhöhend angelegt ist und dessen Leistungen nicht als Einkommen oder Sachleistung bedarfsmindernd berücksichtigt werden. Nur bei einer solchen Ausgestaltung erscheint es überhaupt praktikabel, die »Grundrente« über die Rentenversicherung abzuwickeln und den Begünstigten »den Gang zum Sozialamt zu ersparen«, wie im Vorfeld immer wieder betont wurde. Wer am Ende die Kosten trägt – Beitrags- und/oder Steuerzahler – ist dabei noch völlig offen. Denn bei der Ergänzungsleistung handelt es sich nicht um Grundsicherung aber auch nicht um Rente; wäre es anders, würden Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung fällig, was aber nicht gewollt sein dürfte.

Wie beim Bildungs- und Teilhabepaket wäre schließlich flankierend dafür Sorge zu tragen, dass auch Altersrentner außerhalb der Grundsicherung aber mit Bezug von Wohngeld in den Kreis der Leistungsberechtigten einbezogen werden.

Eine derart restriktive Ausgestaltung der »Grundrente« könnte aber womöglich selbst die geringen Erwartungen, die mit ihrer Einführung verbunden werden, nicht erfüllen. Hierzu ein Beispiel für einen Zweipersonen-Rentner-Haushalt, dessen Grundsicherungsbedarf sich auf insgesamt 1.400 Euro beläuft (je Haushaltsmitglied 700 Euro). An Einkommen ist lediglich die Altersrente des Ehemannes in Höhe von netto 1.100 Euro zu berücksichtigen. Damit liegt sein Alterseinkommen jedoch deutlich oberhalb des individuellen Bedarfs; er ist folglich nicht grundsicherungsberechtigt und hätte trotz Wartezeiterfüllung somit auch keinen Anspruch auf »Grundrente«. Der seinen eigenen Bedarf übersteigende Teil der Altersrente (400 Euro) wird seiner Ehefrau als Einkommen zugerechnet; ihr Anspruch auf aufstockende Grundsicherung beträgt dann 300 Euro; sie selbst aber verfügt mangels Wartezeiterfüllung nicht über die Zugangsberechtigung zur »Grundrente«. Am Ende überstiege das verfügbar Einkommen des Rentners nicht seinen sozialhilferechtlichen Bedarf. – Will man ein solches Ergebnis verhindern, darf der Zugang zur »Grundrente« nicht den individuellen Bezug von Grundsicherung im Alter zur Voraussetzung haben, sondern müsste beispielsweise in einer Gesamtbetrachtung die Bedarfsgemeinschaft – die das 4. Kapitel des SGB XII allerdings bislang nicht kennt – in den Blick nehmen.

 

Bei einer Freibetragslösung wäre die Sache demgegenüber von vornherein eindeutig: Mindestens 70 Euro (zehn Prozent seines Bedarfs) blieben beim Ehemann anrechnungsfrei; seine Ehefrau erhielte 370 Euro Grundsicherung. Auch bei einer horizontalen Anrechnung des Einkommens, wie sie im Rahmen des SGB II üblich ist, verblieben dem Haushalt – selbst in der Variante der »Ergänzungsleistung« – 70 Euro mehr. Denn anders als im SGB XII (vertikale Einkommensanrechnung) wird das anrechenbare Einkommen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende auf alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft bedarfsanteilig verteilt, so dass im Beispiel am Ende auch der Ehemann hilfebedürftig wäre.

Summa summarum verwundert es daher nicht, dass die »Grundrente« – anders als etwa die »Mütterrente II« – im Vertragstext ausdrücklich nicht als »wichtiger Baustein zur Bekämpfung von Altersarmut« [5] qualifiziert wird. – Dies alles ist, wie erwähnt, nur ein erster Interpretationsversuch der Koalitionsvereinbarung.

[1] Ein neuer Aufbruch für Europa - Eine neue Dynamik für Deutschland - Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD v. 07.02.2018, S. 91
[2] Vgl. J. Steffen, Zeiten der Arbeitslosigkeit in der gesetzlichen Rentenversicherung, Portal Sozialpolitik 2014
[3] Vgl. die Vorstellung der Arbeitsgruppenergebnisse durch Karl-Josef Laumann (CDU), Andrea Nahles (SPD) und Barbara Stamm (CSU) am 01.02.2018
[4] Vgl. hierzu – allerdings vor einem anderen Hintergrund – schon 2013: W. Buhl/B. L. Loose, Vorsorgeanreize durch Ergänzungsleistungen zur GRV-Rente, RV aktuell 10/2013, S. 272 ff.
[5] Koalitionsvertrag, a.a.O., S. 92

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