Rentenniveau und Fürsorgebedürftigkeit
Rentenniveau und Fürsorgebedürftigkeit
Anteil der Niveausenkung am steigenden Armutsrisiko im Alter
Johannes Steffen | Juni 2016
Kaum, dass die Gewerkschaften für die zweite Jahreshälfte eine Kampagne zur Stabilisierung und (Wieder-) Anhebung des Rentenniveaus angekündigt haben, mehren sich Stimmen, die die Bedeutung der unter Rot-Grün in Gang gesetzten Niveausenkung für ein absehbar steigendes Armutsrisiko im Alter zu relativieren suchen. Von viel größerem Einfluss seien fehlende Beitragszeiten. Kurzum: Ein wieder auf die Sicherung des Lebensstandards ausgerichtetes Rentenniveau – wie es nicht nur die Gewerkschaften fordern – sei für die Bekämpfung von Altersarmut wenig hilfreich.
So führen etwa Bert Rürup, Chef-Berater des rentenpolitischen Paradigmenwechsels und von 2000 bis 2009 Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung, sowie Gert G. Wagner, der diesen Job seit 2014 innehat, in einem gemeinsamen Beitrag aus: »Das größte Risiko, im Alter (…) auf die staatliche Fürsorge angewiesen zu sein, resultiert nicht aus der (…) Absenkung des Rentenniveaus. In der Summe wichtiger sind keine oder zu geringe Beitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung – als Folge von Langzeitarbeitslosigkeit, Erwerbsminderung in jungen Jahren und nicht zuletzt als Folge nicht beitragspflichtiger Erwerbstätigkeit (Stichwort Soloselbständigkeit).« [1]
Nun hat das Armutsrisiko im Alter viele Ursachen – nicht alleine eine niedrige Versichertenrente. Auch kann das Hauptanliegen der auf beitragsäquivalenten Leistungen basierenden gesetzlichen Rente – entgegen der Schwerpunktsetzung in den öffentlichen Debatten der letzten Jahre – nicht in der Vermeidung von Armut bestehen; Ziel muss vielmehr eine Verstetigung des Einkommensflusses im Lebenslauf und die Eröffnung einer äquivalenten Teilhabe an der Wohlstandsentwicklung im Alter wie auch bei Erwersminderung (EM) sein. Im Ergebnis trug diese Ausrichtung – jedenfalls in der Vergangenheit – ihrerseits ganz wesentlich auch zur strukturellen Armutsresistenz des Alterssicherungssystems bei.
Die Höhe einer Versichertenrente hängt ab von der Summe der erzielten Anwartschaften oder Entgeltpunkte (EP). Die wiederum ergibt sich aus der Multiplikation der Beitragsjahre mit der im Durchschnitt des Erwerbslebens versicherten Entgeltposition. Die im Einzelfall erzielbaren Anwartschaften werden allerdings zunehmend stärker von Entwicklungen am Arbeitsmarkt negativ beeinflusst. Als Stichworte mögen Niedriglöhne, Arbeitslosigkeit, Teilzeit oder auch versicherungsfreie Erwerbsformen reichen.
Die (sinkende) Summe an Entgeltpunkten ist aber nur die eine Seite der Medaille – deren Bewertung ist die andere. Der Wert der Anwartschaften hängt ab von Höhe und Dynamik des aktuellen Rentenwerts – und der bleibt wegen der politisch vorgegebenen Niveausenkung immer weiter hinter den Löhnen zurück. Beide Entwicklungen – zunehmend perforierte Erwerbs- sowie Erwerbseinkommensverläufe und das sinkende Rentenniveau – erhöhen neben leistungsrechtlichen Defiziten (Abschläge auf EM-Renten, ungenügende Bewertung von Zeiten der Arbeitslosigkeit und der Niedriglohnbeschäftigung) das Armutsrisiko im Alter.
Formuliert man nun eine Umkehr-These zu den Ausführungen von Rürup und Wagner, so könnte diese in etwa wie folgt lauten: »Ohne Zeiten der Arbeitslosigkeit, ohne Erwerbsminderung und ohne beitragsfreie Erwerbsformen könnte die Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge im Einzelfall weitgehend vermieden werden.« Um dies zu überprüfen, sind einige Typisierungen nötig – einschließlich der damit einhergehenden Vereinfachungen.
Im Jahr 2000 betrug das Rentenniveau 52,9 Prozent (SvS [2]); bis etwa Mitte der 2030er Jahre wird es auf 43 Prozent sinken. Als »Schwellen-Beispiel« für den folgenden Vergleich dient eine (Standard-) Erwerbsbiografie mit 45 Beitragsjahren [3] und einer Entgeltposition von 61,06 Prozent des Durchschnittsentgelts, was 0,6106 EP pro Jahr entspricht [4]. Auf der Werte- und Rechtsbasis vom Dezember 2015 ergäbe dies für einen kinderlosen Single ohne die Niveausenkung (SvS = 52,9 Prozent) eine Nettorente von 790 Euro; der Wert entspricht genau dem durchschnittlichen Fürsorgebedarf im Alter außerhalb von Einrichtungen. Bei einem Rentenniveau von 43 Prozent wären bei gleicher Entgeltposition zusätzlich 9,4 Beitragsjahre nötig, um diesen Rentenbetrag »halten« und Fürsorgeabhängigkeit vermeiden zu können. Dem Sinkflug des Niveaus um 18,7 Prozent steht ein Anstieg der erforderlichen Beitragsjahre um 20,9 Prozent gegenüber.
Bei Eintritt von Erwerbsminderung gewährt das Rentenrecht eine Zurechnungzeit bis zum vollendeten 62. Lebensjahr – bewertet mit dem Durchschnitt der vorangegangenen Beitragszeiten (hier also 0,6106 EP pro Jahr). Allerdings fallen in der Regel noch Abschläge in Höhe von 10,8 Prozent an. Umgerechnet in Zeiteinheiten fehlen im Beispiel am Ende 7,5 Beitragsjahre. Bei ununterbrochener Arbeitslosigkeit von zehn Jahren, davon ein Jahr mit Bezug von Arbeitslosengeld, fehlen unterm Strich 9,2 Beitragsjahre. Und bei insgesamt zehnjähriger beitragsfreier Erwerbstätigkeit fehlen genau diese zehn Beitragsjahre.
Verglichen damit entspricht die Senkung des Rentenniveaus von 52,9 Prozent auf 43 Prozent im »Schwellen-Beispiel« einem Äquivalent von 9,4 Beitragsjahren. Selbst wenn die Beitragslücken in allen drei Fällen vollständig geschlossen würden – die 790 Euro für eine armutsfeste Rente wären damit noch nicht erreicht. Es ist und bleibt die Senkung des Rentenniveaus, die viele Anstrengungen zur Lückenschließung stumpf bleiben lässt und das Armutsrisiko massiv erhöht.
[1] Altersvorsorge auch für Selbstständige, ein Gastbeitrag von Bert Rürup und Gert G. Wagner, in: Frankfurter Rundschau v. 13.04.2016. - Vgl. auch Gert G. Wagner, Die Rente bleibt unsicher, Zeit-online v. 03.05.2016 sowie Axel Börsch-Supan, Wie Manna vom Himmel, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung v. 06.05.2016 (Printausgabe).
[2] Sicherungsniveau vor Steuern nach 45 Beitragsjahren und Durchschnittsentgelt (45 EP).
[3] Die 45 Beitragsjahre werden – so eine weitere Annahme – mit Alter 67 bzw. 65 (EM) erreicht.
[4] Das einer Entgeltposition von 61,06 Prozent korrespondierende Monats-Brutto beträgt 1.781 Euro (2015).